Shared Space (auf deutsch: gemeinsam genutzter Raum) ist ein relativ junges Verkehrskonzept, das auf den im Januar 2008 verstorbenen niederländischen Verkehrswissenschaftler Hans Monderman zurückgeht. Es basiert auf seiner Beobachtung, dass immer mehr Regulierungen und Verbote im Straßenverkehr nicht automatisch zu mehr Verkehrssicherheit führen, in bestimmten Gebieten sogar kontraproduktiv sind und zu mehr Unfällen führen. In seinem Konzept werden Fussgänger, Radfahrer und Autofahrer nicht mehr künstlich voneinander getrennt, sondern wie auf einer alten Dorfstrasse zusammengebracht. Dadurch sind alle Verkehrsteilnehmer gezwungen, sich untereinander zu verständigen, sich langsamer und damit vorsichtiger zu bewegen.
Mitte der 80er Jahre ließ er in Oudehaske, einem Dorf in der Provinz Friesland, all das entfernen, was zum klassischen Arsenal der Verkehrsexperten gehört, um Raser zu stoppen und den Verkehr zu regulieren: Verkehrsschilder, Ampeln, Blumenkübel und Bordsteine. Es war vorhersehbar, dass er damit seine Vorgesetzten und die Fachwelt gegen sich aufbrachte.
Viele halten ihn noch heute für einen "Verrückten", andere inzwischen aber für "Hollands visionärsten Verkehrsplaner", denn Verkehrsmessungen ergaben verblüffende Ergebnisse: Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Autos sank von 58 km/h auf 37 km/h, und es gab deutlich weniger Unfälle.
Andere Gemeinden haben das ebenfalls nachgemacht. In der niederländische Stadt Drachten stehen von 15 Ampeln nur noch 3, Hunderte von Schildern wurden entfernt. Die Unfallzahlen gingen daraufhin innerhalb weniger Jahre um mehr als die Hälfte zurück. Selbst in London wurde gegen den anfänglichen Widerstand der Anwohner die Kensington High Street nach dem Shared Space Konzept umgebaut. Auch hier sanken die Unfallzahlen deutlich; "Shared Space" kann also auch in einer Großstadt funktionieren.
Diese Erfolge haben die EU dazu bewogen, ein (inzwischen abgeschlossenes) Förderprojekt aufzulegen. Als einzige deutsche Gemeinde baute die niedersächsische Gemeinde Bohmte seit September 2007 einen Teil der Hauptstraße nach Shared-Space-Kriterien um. Bohmte hatte die typischen Probleme eines Straßendorfs: 12.000 Autos fuhren täglich mitten durch den Ort, dazu noch 1000 Lkw. Nachts schreckten die Anwohner auf, wenn Laster über Gullydeckel rollten. Radfahrer trauten sich oft nicht auf die Fahrbahn. Fußgänger mussten lange warten, bis sie die Straße überqueren konnten und der Gehweg war viel zu schmal.
Inzwischen sind die zahlreichen Skeptiker in Bohmte weitgehend verstummt, es gab seit dem Umbau keinen einzigen Unfall mit Personenschaden, die Staus während des Berufsverkehrs gehören der Vergangenheit an, die Aufenthaltsqualität stieg erheblich und die Anlieger nahmen wohlwollend zur Kenntnis, dass der Wert ihrer Häuser gestiegen ist, weil sich die städtebauliche Qualität deutlich verbessert hat. Hier ein Reisebericht aus Bohmte vom Mai 2009.
Inzwischen liegt auch eine offizielle Zufriedenheitsstudie der FH Osnabrück zum Shared-Space-Umbau in Bohmte vor. Die interessantesten Aspekte daraus:
- Die sehr hohe Gesamt-Zufriedenheit von Passanten, Anwohnern und Gewerbetreibenden mit der gefundenen Lösung: 74 bis 81% schätzen den Umbau überwiegend als Erfolg ein.
- In der Wahrnehmung der Bürger hat sich die Aufenthaltsqualität und die Wohnqualität erhöht, der Bereich wird als jugendfreundlicher beurteilt.
- Der Anteil von Unfällen mit Personenschaden ist auf 8,7% gesunken. Zum Vergleich: im gesamten Landkreis Osnabrück sind im Durchschnitt 27% aller Verkehrsunfälle mit Personenschaden verbunden.
- Fußgänger waren im Shared-Space-Bereich bisher nicht an Unfällen beteiligt. (!!)
- Eine deutliche Mehrheit der Passanten nimmt eine Verbesserung des Verkehrsflusses durch das Ersetzen der Ampel mit dem Shared-Space-Kreisel wahr.
- Das verbreitete Vorurteil "Shared Space ist nichts für Durchgangsstraßen" wird durch diese Studie widerlegt.
Aus anderen Europäischen Ländern gibt es ähnlich positive Ergebnisse. Nach Aussage des britischen Verkehrsexperten Ben Hamilton-Baillie sank in den realisierten Projekten die Zahl der Verkehrsunfälle im Durchschnitt um 60%, schwere Unfälle noch stärker. Trotz Aufhebung von Geschwindigkeitsbegrenzungen verringert sich in Shared-Space-Zonen die tatsächliche Fahrzeuggschwindigkeit, aber die Leistungsfähigkeit steigt, weil der Verkehr gleichmäßiger fließt. Autofahrer profitieren daher ebenfalls durch weniger Staus.
Im Land Brandenburg wurde bereits ein Pilotprojekt Shared Space aufgelegt. In Berlin ist man noch nicht so weit, aber auch hier gab es schon Veranstaltungen zum Thema Shared Space. Vielleicht lassen sich die positiven Erfahrungen aus anderen Gemeinden nutzen, um auch in Blankenburg ein modernes Verkehrskonzept zu realisieren, das Vorbildfunktion haben könnte.
Sehr zu begrüßen ist die Initiative der Linksfraktion Pankow, die das Thema aufgegriffen hat und dazu eine Beschlussempfehlung für einen Prüfauftrag zum Thema Shared Space in die BVV eingebracht hat.
Die im November 2008 vom Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung durchgeführte, hochkarätig besetzte Veranstaltung "Shared Space in Berlin" gab der Entwicklung in Berlin neuen Schub. Dort wurde als möglicher Ort für ein Pilotprojekt auch Blankenburg genannt. Die dramatisch sinkenden Unfallzahlen und Verbesserung der Qualität des Öffentlichen Raums wurden selbst von den anwesenden Skeptikern nicht in Frage gestellt. Allerdings wurde auch deutlich, dass dieses Konzept mit deutschem Planungs- und Verkehrsrecht nur mit sehr viel gutem Willen aller Beteiligten zu vereinbaren ist. Dass die Hauptverwaltung diesen Faden aufgreift, ist zur Zeit mehr als unwahrscheinlich, daher kann man nur auf politischen Druck von unten, oder auf eine überparteiliche Initiative hoffen.
Die Wahl eines geeigneten Pilotprojekts in Berlin sollte allerdings sorgfältig vorgenommen werden. Trotz des immer wieder erwähnten erfolgreichen Londoner Beispiels liegen die meisten Shared-Space-Projekte nicht in Ballungsräumen. Für innerstädtische Gebiete mit hohem Verkehrsdruck, wie z.B. im Prenzlauer Berg, gibt es noch kein überzeugendes Konzept, daher wäre es unklug, schon gleich das erste Pilotprojekt mit zusätzlichen Problemen zu belasten.
Das Beispiel Boomte zeigt, dass ein Shared-Space-Vorhaben nicht wie üblich von oben geplant und dann den Anwohnern zum Abnicken präsentiert werden kann. Dieses Konzept erfordert von allen Beteiligten ein sehr großes Maß an Umdenken und Kompromissbereitschaft, was in einem überschaubaren Kiez sicherlich leichter zu erreichen ist, als in einem Gebiet, in dem schon jetzt mehrere Interessengruppen gegeneinander kämpfen.
Eine Hauptverkehrsstraße ohne anliegende Geschäfte und Fußgänger wäre ebenfalls nicht geeignet, denn nur bei halbwegs gleichmäßiger Nutzung auch durch Radfahrer und Fußgänger kommt es nicht zur Notwendigkeit gegenseitiger Rücksichtnahme.
Shared Space Veranstaltungen in Berlin
"Einer der größten Fehler ist, die Illusion von Sicherheit zu vermitteln."
(Projektdokumentation Keunig-Institut, NL)
"In my view, regulation safety standards in this country are not designed on the basis of evidence as to road user conduct and what is needed to reduce risk given observable behaviour and events. They are designed rather as abstract engineering exercises with the principal purpose of making it harder for road accident victims to bring successful litigation against highway authorities (and engineers)."
(Daniel Moylan, Vorsitzender des Bezirksparlaments von Kensington und Chelsea in einem Report zum Shared-Space-Projekt Kensington High Street, 2004)